Jeder Schritt ist ein Schritt

 

 

 

 

Melanie Brauchler spricht mit dem Wandlitzer

Fotograf, Schwungschreiber und Autor Tim Noack über sein Buch „Musterspuk“.

Das Gespräch erscheint auch im Barnim Journal 10/2024.

 

 

 

Melanie: In seinem Leben sollte man einen Baum gepflanzt, ein Haus gebaut und ein Buch geschrieben haben. Ich frage jetzt bewusst scherzhaft: Bist du nun fertig mit deinem Leben, Tim?

 

Tim: Nein, denn ich habe noch keinen Baum gepflanzt. (Schmunzelt.) Und außerdem möchte ich noch ganz vielen Menschen beim Fotografieren, Schwungschreiben und Vorlesen begegnen. Das Buch habe ich nicht geschrieben, um einen Punkt auf einer To-do-Liste abzuhaken, sondern um eine gefühlte innere Schwelle zu überschreiten. Meine persönliche Angst- und Schamschwelle, die mich häufig von der Welt zu trennen scheint. Mit der bewussten Entscheidung, mich in Buchform authentisch zu zeigen, habe ich mir ein Feld der Möglichkeiten eröffnet. Darauf darf ich jetzt Erfahrungen sammeln und menschliche Begegnungen erleben. Dieses Buchfeld ist für mich ein gänzlich neues Feld. Insofern kann man sagen, dass ein Leben endet, wobei aber auch ein neues Leben beginnt.

 

Melanie: Also hilft dir das Buch, gewisse Erscheinungen deines alten Lebens hinter dir zu lassen?

 

Tim: Ja, unbedingt. Das Buch schafft Schritt für Schritt Klarheit. Es deckt Karten auf, von denen ich nicht einmal die Rückseite kannte. Das Buch soll ein Wind sein, der Nebelschwaden auflöst.

 

Melanie: Worum geht es überhaupt in deinem Buch?

 

Tim: „Musterspuk“ enthält Geschichten, Gedichte, Gedanken und Schwungseiten – Texte über den Wecklauf mit dem Leben. Es geht grundlegend um Bewusstwerdung, etwa gegenüber alten Mustern, die man ständig wiederholt, gegenüber Sackgassen und Glaubenssätzen, in denen man sich festgefahren hat oder gegenüber Erstarrungen, in denen man festhängt. Es geht um Versuche, die alten Muster und Sichtweisen zu durchbrechen, manchmal erfolgreich, manchmal nicht. Es geht darum, wie man aus einer Enge in eine Weite gelangt, wie man aus dem Funktionieren ins Fühlen kommt, wie man den inneren Schieberegler von Angst in Richtung Liebe bewegt.

 

Melanie: Wer das Buch nicht kennt, wird denken „Puh, was für ein schwerer Brocken.“ Da ich das Buch aber kenne, weiß ich, dass es das eben nicht ist. Ich habe bereits einige Auszüge auf meinen Social Media-Kanälen veröffentlicht und die Reaktionen waren durchgehend: „Oh, wie wundervoll!“ oder „Was ist das für ein Buch?“ Mich beeindruckt sehr, dass du die komplexen Themen, die du in deinem Buch beackerst, in eine so wunderbare Sprache gekleidet hast.

 

Tim: Danke für dein Feedback, das ich sehr zu schätzen weiß. Gleichzeitig merke ich, wie bestimmte Teile in mir immer noch beharrlich Lob abwehren. Ich mache mir beim Schreiben keine großen Gedanken, sondern lasse die Wörter so aufs Papier laufen, wie es sich richtig anfühlt. Die Verbindung zu Spontaneität und Intuition macht mich glücklich. Wenn das Ergebnis auch anderen gefällt, ist das schön.

 

Melanie: In den letzten Jahren haben wir beide schon sehr viel über plötzliche gemeinsame Worterfindungen gelacht, vor allem, wenn du mich als Schwungschreiber in der Buchhandlung Wandlitz unterstützt hast. Wann kam der Moment, an dem dir klar wurde, dass du nicht nur einzelne Wörter in dir trägst, sondern ein ganzes Buch?

 

Tim: Dieser Moment kam im Frühjahr 2023, nachdem ich auf einer kleinen Buchmesse die Autorin Stefanie Steenken getroffen habe. Sie schenkte mir spontan ein Buch von sich. Ich las rein und wusste sofort: das möchte ich auch machen. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits eine Geschichte und ein Gedicht geschrieben. Ab nun ging es los. Es war wie eine Schleusenöffnung. Teilweise täglich sah ich mich an meiner Tastatur sitzen und wie in Trance Wörter aneinanderreihen. Nach ein paar Minuten stand da plötzlich ein Gedicht. Nach zwei Stunden stand da plötzlich eine Geschichte. Ich hatte keine Ahnung, wo die Texte hergekommen waren. Manchmal war ich etwas irritiert, aber da sich alles so gut und richtig anfühlte, habe ich es nicht wieder gelöscht. Schließlich sind es 280 Seiten geworden.

 

Melanie: Stefanie Steenken inspiriert viele meiner Kunden. Ihre Bücher widmen sich in der Regel jeweils einem Thema. Wie kann man sich der Vielfalt in deinem Buch nähern? Du selbst bezeichnest diese Vielfalt als „Das Puzzle in der Wundertüte“.

 

Tim: Man kann das Buch an einer beliebigen Seite aufschlagen, einen Blick hineinwerfen und einfach die Gedanken, Empfindungen und Gefühle wahrnehmen, die sich in diesem Moment zeigen. Was sagt der Bauch? Fühlt es sich stimmig an? Was wartet und winkt jenseits der Worte?

Apropos, Melanie, wie hast du dich dem „Musterspuk“ genähert?

 

Melanie: Ich habe zunächst versucht, es von vorne nach hinten zu lesen. Durch die unterschiedlichen Stimmungen der Texte bin ich dann dazu übergegangen, mich einfach vom Inhaltsverzeichnis inspirieren zu lassen. Wenn ich dort ein interessantes Wort gefunden habe, bin ich zur jeweiligen Seite gesprungen. Dieses „Sprunglesen“ hat mir meinen ganz eigenen Zugang zum „Musterspuk“ eröffnet. Besonders die Gedichte haben es mir angetan. Zu meinen Favoriten gehören „Vom Schwungschreiben“, „Ein zerknülltes Blatt“ und „Eine mutige Maus“.

 

Melanie: Stand der Titel „Musterspuk“ von Anfang an fest?

 

Tim: Nein, die Texte im Buch sind über einen Zeitraum von über vier Jahren entstanden. Der Einzelwicht traute sich Anfang 2020 heraus, der Zaungast zeigte sich etwa ein Jahr später. Ab Ostern 2023 hieß mein Buchprojekt „Musterbruch“. Anfang 2024 erschien dann auf dem Markt ein Buch mit diesem Namen, da musste ich mir einen neuen Titel ausdenken ... mit dem ich mich sofort angefreundet habe. „Musterspuk“ beschreibt in meiner Wahrnehmung sehr treffend den unwägbaren Bereich, durch den ich mich auf meiner Suche hindurchmanövriert habe – mit all seinen Irrungen und Wirrungen.

 

Melanie: Das Buch spricht zu mir. Ich verspüre regelrecht den Drang, mich mit dir über seine Texte zu unterhalten. Kannst du dir vorstellen, mit deinen Lesern über die Inhalte in deinem Buch ins Gespräch zu kommen?

 

Tim: Ja, sehr gern. Dann wäre eines meiner Herzensanliegen erfüllt. Mit meinem Buch als Brücke möchte ich auf Augenhöhe einen Kontakt, eine Verbindung und einen Austausch mit anderen Menschen herstellen. Allerdings möchte ich, dass jeder seine ganz eigene Perspektive behalten kann. Ich strebe danach, nichts zu überlagern oder zu überdecken.

 

Melanie: Du nennst Kontakt, Verbindung und Austausch. Weil du dich vorher isoliert gefühlt hast?

 

Tim: Um deine Frage mit dem Buch zu beantworten – ich kann die Verlassenheit und Einsamkeit des Zaungastes sehr gut nachempfinden.

 

Melanie: Du spielst damit auf den ersten Text im „Musterspuk“ an. Diesen hattest du mir bereits vor zwei Jahren zum Lesen gegeben. Ich hatte damals das Gefühl, dass du dich sehr weit öffnen musstest, um diese Geschichte zu erzählen. Jetzt wurde das Buch veröffentlicht und jeder kann in dein Innerstes schauen. Wie fühlt sich das für dich an?

 

Tim: In den Tagen vor und nach der Veröffentlichung des Buches bin ich immer wieder nachts aus dem Schlaf hochgeschreckt und habe zu mir gesagt: „Du hast das jetzt nicht wirklich getan, oder?“ Dann habe ich mich mithilfe meiner eigenen Zeilen wieder beruhigt: „Wenn wir uns verbergen, wird uns das Leben verborgen bleiben. Wenn wir uns zeigen, wird sich das Leben erkenntlich zeigen.“ Inzwischen habe ich die Tatsache angenommen, dass ich einen unbestechlichen Teil von mir in die Welt hinausgeschickt habe, einen kleinen Botschafter. Mittlerweile sorgt das noch hier und da für Herzwummern, aber generell fühlt es sich gut an. Zudem habe ich beobachtet, dass ich mittlerweile kaum noch Selbstzweifel oder Widerstände wahrnehme, wenn ich neue Texte schreibe. Dafür bin ich meinen Lesern und mir dankbar.

 

Melanie: Würdest du sagen, dass seit der Beschäftigung mit deinem Buchprojekt deine Tage heller geworden sind?

 

Tim: In der Gesamttendenz ja. Das therapeutische Schreiben ist eine erfreuliche Erfindung. Die meisten von uns wissen inzwischen, dass Heilung kein linearer Prozess ist und dass sich die Wellenlinien unseres Befindens nur ganz allmählich in den gelben oder grünen Bereich schlängeln. Ich bin froh, dass ich – wie viele andere vor mir – beharrlich weitergegangen bin. Jeder Schritt ist ein Schritt.

 

Melanie: Als Buchhändlerin gefragt – wer ist deine Zielgruppe?

 

Tim: Menschen, die keine Berührungsängste mit Authentizität haben. Ich freue mich sehr über jeden, der mein Buch in die Hand nimmt und darin herumblättert. So kann eine Reise beginnen. Ich vermute, dass meine Texte vor allen Dingen Menschen erreichen, die sich auf dem Weg befinden. Insbesondere Menschen, die Weg großschreiben.

 

Melanie: Bei manchen deiner Gedichte fühle ich mich an James Krüss erinnert.

 

Tim: Darf ich so ein Kompliment überhaupt annehmen? Also James Krüss, das ist wirklich drollig, denn meine Eltern haben mich nach „Timm Thaler“ benannt.

 

Melanie: Ich erlebe dich oft als urkomisch und witzig. Ich könnte mir dich gut als Kinderbuchautor vorstellen. Wann werden wir deinen Humor in deinen Texten erleben?

 

Tim: Danke, Melanie. Ich freue mich, dass du das siehst. Ich denke, der Humor zeigt sich von ganz allein, wenn ich mich aufrichtig bis zu ihm durchgegraben habe. Ich möchte beim Schreiben so wahrhaftig wie möglich bleiben und mich unverstellt zeigen. Momentan ist die Schicht der unbeschwerten Leichtigkeit noch nicht erreicht, auch wenn ich sie bereits erahnen kann. Im Gegensatz zu Timm Thaler habe ich also mein Lachen nicht verkauft, sondern verbuddelt.

 

Melanie: Welcher Text ist dein Liebling. Welches Erlebnis steckt dahinter?

 

Tim: Sämtliche Texte liegen mir gleichermaßen am Herzen und nahezu alle beruhen auf meinem inneren Erleben oder wurden durch innere Bilder inspiriert, die ich teilweise seit Jahren in mir herumgetragen habe. Meine heimlichen Helden sind die scheinbar Kleinen oder Schwachen, die wahrhaftig und friedlich bleiben: der Einzelwicht, das Schattenmännchen und die Kinder, die leisen Stimmen, Lo und die Boxerin. Natürlich auch die mutige Maus. Sie kennt das Zitat „Angst essen Seele auf“, doch sie erwidert darauf mit keckem Blick: „Maus essen Angst auf“.

 

Melanie: Wie geht es dir heute?

 

Tim: Ich fühle Dankbarkeit, z.B. für die Unterstützung, die ich erfahre. – Es gibt tatsächlich Buchläden, die mich direkt auf ihrem Büchertisch platzieren. Das muss man sich mal vorstellen! – Ich fühle Vorfreude, etwa auf die kommenden Lesungen. Ich spüre Aufregung. Mein Kopf denkt, dass ich mir etwas eingebrockt habe. Jetzt steht die Suppe auf dem Tisch und ich kann das nicht mehr ändern. Möge sie also schmecken und nahrhaft sein.

 

 

 

Wandlitz im Herbst 2024

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© Tim Noack